9. Heimatvertrieben / Schönebergstraße

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Aus den Erinnerungen von Lorenz Ehm

Lorenz Ehm und seine Familie wurden im Sommer 1946 aus Steinbach im Egerland vertrieben. In seinen privaten Erinnerungen beschreibt er Vertreibung und die ersten Jahre in der neuen Heimat Bellenberg:

„In Deutschland angekommen, mussten wir zunächst das Lager in Augsburg in der Kammgarnspinnerei durchlaufen. Danach wurden wir nach Vöhringen verfrachtet. Dort wurden wir auf dem Werksgelände der Firma Wieland in Holzbaracken, die als Kriegsgefangenenlager dienten, untergebracht. Schon im Lager Augsburg haben wir bemerkt, dass die wenigen Sachen, die wir in zusammengenähten Fleckerteppichen verpackt hatten, total durchnässt waren. Die ganze Misere rührte von einem Wasserleitungsbruch im Lager Falkenau her. Unsere Kleider, die Bettwäsche, meine Hemden und vieles mehr hatten sich verfärbt. Meine Schwiegermutter und Berta waren einem Nervenzusammenbruch nahe.

Im Lager Vöhringen konnten wir uns nach der Entlausung endlich einmal waschen. Dort blieben wir einige Tage. Den Männern wurde vom Arbeitsamt eine Arbeit zugeteilt. Mein Vater, mit dem wir erst in Vöhringen nach seiner Flucht zusammentrafen, erhielt eine Arbeit in der Ziegelei im Nachbarort Bellenberg, was sich später als Glücksfall herausstellen sollte. Dort wurden wir beim Landwirt Walser – heute Memminger Str. gegenüber der Bäckerei Kiechle – eingewiesen. …….“

„Ich meldete mich alsbald bei der Ziegelei, um eine Arbeitsstelle zu bekommen. Wegen meiner schweren Kriegsverletzung wurde ich aber abgewiesen. Bei den Wieland-Werken in Vöhringen hatte ich dann Glück. Aufgrund meiner Berufskenntnisse und Zeugnisse bekam ich Arbeit. Auch wieder ein Glücksfall. Nach einem Vierteljahr Probezeit wurde ich fest eingestellt und bereits nach einem Jahr als Angestellter übernommen. Mein monatlicher Lohn war damals 195 Mark. Die Firma Wieland wollte mir auch eine Werkswohnung geben, aber die Gemeinde Vöhringen verweigerte den Zuzug.

Berta bekam bei der Vöhringer Wäschefabrik Rössler eine Stelle als Näherin und später eine Arbeit in der Produktkontrolle bei Wieland in Ulm. Meine Schwiegermutter machte den Haushalt und betreute Herbert. Anfangs arbeitete sie noch im Pflanzgarten und bei Pflanzaktionen im Wald mit. Um die Lebensverhältnisse etwas zu verbessern, fertigten wir in Heimarbeit Wäscheklammern für die Firma Pfister. Ebenso halfen Berta und meine Schwiegermutter bei Erntearbeiten in der Vogtmühle aus. Der Lohn war ein willkommenes zusätzliches Mittagessen und sonstige Lebensmittel.

Von der Gemeinde bekamen wir eine Parzelle im Schrebergarten zugewiesen. So konnten wir Kartoffeln, Tomaten, Gurken und sonstiges Gemüse anbauen und damit unsere tägliche Verpflegung etwas aufbessern. Auch Mohn und Tabak bauten wir an. Das Wasser zum Gießen musste mühsam vom rund 100 m entfernten Mühlbach geholt werden. Die Tabakblätter wurden auf eine Schnur aufgefädelt und zum Trocknen aufgehängt. Zum Schneiden brachte man sie zu einem Mann in Regglisweiler. Eine Brücke von Au hinüber ins Württembergische gab es damals noch nicht. Man musste mit der Fähre gegen ein geringes Entgelt übersetzen. Der Fährmann wurde mittels einer Glocke, die mit einem langen Draht verbunden war, gerufen. Mein Vater war oft in Regglisweiler, um Tabak für sein Laster, das Rauchen, zu bekommen.

Die Fähre zwischen Au und Regglisweiler verkehrte bis zur Einweihung der Illerbrücke 1954. 

Um im Winter nicht frieren zu müssen, sammelten Berta und vor allem meine Schwiegermutter fleißig Holz im Wald. Mit dem Handwagen, angefertigt vom Wagner Sax, ging es weit hinaus in den Illerwald. Jeder dürre Stecken wurde aufgelesen. Zur damaligen Zeit waren die Wälder ausgefegt und aufgeräumt, weil viele Leute sich auf diese Weise Heizmaterial besorgten. Auch sammelte man Fichtenzapfen. Diese brannten wie Zunder, aber leider nicht lang anhaltend. Aber auch dies half, über den Winter zu kommen. Auch im Sommer brauchte man Heizmaterial für den Herd zum Kochen, denn einen E-Herd kannte man damals noch nicht.

Wenn es am Bahnhof die Kohleration gab – das war meistens im Winter – mussten die Frauen beizeiten mit dem Handwägelchen anstehen, um die begehrten Kohlen auch wirklich zu bekommen. Man fror sich die Füße ab beim langen Stehen bei Eiseskälte.“

„Der wirtschaftliche Aufschwung setzte bald ein. Wir brauchten keine Bezugsscheine und Lebensmittelmarken mehr. Es gab praktisch alles, nur fehlte uns das nötige Geld. Der Aufschwung kam in der Hauptsache durch die Flüchtlinge, Heimatvertriebenen und Ausgebombten, die ja fast nichts mehr hatten und alles neu anschaffen mussten. Die Schwaben konnten ihr Geld auf die hohe Kante legen. Wir mussten hart arbeiten, um unsere Lebensverhältnisse zu verbessern. Eine 35-Stunden-Woche gab es damals noch nicht. Es galt 48 Stunden zu arbeiten. Selbst Überstunden wurden gern geleitet, brachten sie doch einen zusätzlichen Verdienst. Wir klagten nicht, sondern waren froh, Arbeit zu haben.“

„Durch unseren Fleiß, unsere Tüchtigkeit und Sparsamkeit konnten wir schon 1952/53 ein eigenes Haus bauen. Nicht vorhandene finanzielle Mittel glichen wir durch sehr viel Eigenleistung aus. Vom Schreinermeister Georg Bretzel konnten wir einen kleinen Streifen Land erwerben. Wir machten praktisch alles selber. Eine Stromleitung, die ich vom Konle-Haus zur Baustelle legte, ermöglichte uns ein Arbeiten bei Nacht, denn das Tageslicht reichte oft nicht aus, um die viele Arbeit fertig zu bringen. Bis spät in die Nacht verbrachte ich auf der Baustelle. Die Nächte waren kurz und tagsüber musste ich bei Wieland meinen Mann stehen.“

„Eingezogen sind wir am 17. Juni 1953. – Ein denkwürdiges Datum: Es war der Tag des Arbeiteraufstands in Berlin. – Es fehlten noch die Haustüre und der Treppenaufgang. Auch war das Haus außen noch nicht verputzt und eine Garage gab es auch noch nicht. Dies alles spielte aber keine große Rolle. Endlich hatten wir wieder ein eigenes Zuhause. Welch ein glückliches Gefühl!“


Haus der Familie Ehm in Bellenberg

Tafel 9:

Heimatvertrieben

Quelle:

Lorenz Ehm: Alte Heimat, Neue Heimat. Begebenheiten – Fakten – Erinnerungen – Gedanken – Gefühle. Dezember 2004, private Erinnerungen.